Einst, als Sonne und Mond noch den Rhythmus der Zeit bestimmten und Wegstrecken zu Fuß zurückgelegt wurden, gab es drei Königreiche.
Das erste Königreich lag am Meer. Ein dicker König regierte in diesem Reich. Er liebte die Schiffe und er liebte das Meer. Wann immer er mit dem Schiff auf das Meer hinaus segelte, sprach er: „Mein Reich ist das größte. Es reicht von einem Ende des Meeres bis zum nächsten. Nichts kann sich mit dieser Größe messen.“
Das zweite Königreich lag in den Bergen. Ein langer König regierte in diesem Reich. Er liebte die Gesteine und er liebte die Berge. Wann immer er auf die Berge hinauf fuhr oder in den Berg hinab stieg, sprach er: „Mein Reich ist das mächtigste. Es reicht vom höchsten Gipfel bis in den tiefsten Erdenschlund. Nichts kann sich mit dieser Macht messen.“
Das dritte Königreich lag in den Feldern. Ein kleiner König regierte in diesem Reich. Er liebte die Farbe des reifen Korns und den lieblichen Duft der Blumen der Wiese. Wann immer er durch die Felder streifte, sprach er: „Mein Reich ist das wunderbarste. Es reicht vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang, es reicht von einem Menschenleben bis zum nächsten. Nichts kommt diesem Wunder gleich.“
Eines Tages trug es sich zu, dass sich die drei Könige trafen.
Der dicke König sprach sogleich: „Ich bin der König des größten Reiches. Mein Königreich reicht von einem Ende des Meeres bis zum nächsten. Ich bin der größte König.“
„Wie kannst du sagen, dass du der größte König bist“, empörte sich der lange König. „Mein Königreich ist größer und mächtiger zugleich. Es reicht vom höchsten Gipfel bis in den tiefsten Erdenschlund. Diese Größe und diese Mächtigkeit ist mit nichts auf der Welt zu vergleichen.“ Wütend schrie der dicke König: „Sieben mal sieben Tage muss ein Mensch reisen und sieben mal sieben Jahre muss ein Mensch leben, um die Größe meines Reiches zu erfassen. Nichts ist größer auf diese Welt. Aber woher könnte ein so nichtsnutziger Nichtsnutz wie du das wissen?“
Welches ist das größte Königreich?
Augenblicklich schickte sich der lange König an, seine Hand gegen den dicken König zu erheben. Da trat der kleine König dazwischen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und blickte eindringlich erst den einen, dann den anderen an. Schließlich sprach er: „Welches ist das größte Königreich? Welches ist das mächtigste Königreich? Welches ist das wunderbarste Königreich? Wer kann das wissen? Auf einen Wettstreit käme es an! Seid ihr bereit?“ Der kleine König streckte seine Hand aus, der dicke und der lange König schlugen in. „Ein Wettstreit“, sagten beide, „ja, ein Wettstreit, der soll erweisen, welches das größte und mächtigste Königreich ist.“
„Aber wie soll das gehen?“, fragte der dicke König. „Worin wollen wir uns messen?“, wunderte sich der lange König. „Die Menschen werden es erweisen“, sprach der kleine König. „An den Menschen werden wir sehen, ob das Königreich groß und mächtig und wunderbar ist.“ „An den Menschen“, nickte der dicke und der lange König war einverstanden.
„Wir werden den Wettstreit gewinnen“, sprachen die Menschen im Königreich am Meer. „Unsere Geschicklichkeit wird den Beweis erbringen. Durch unsere Schnelligkeit werden wir zeigen, dass wir die Größten sind.“ Und sofort gingen die Bauarbeiter ans Werk. „Ein Schiff werden wir bauen, ein Schiff, das größer und schneller ist als alle Schiffe, die es bisher gab.“ Sie fällten Bäume, so viel das Land hergab. Sie schnitten Holz. Sie hobelten und sägten. Sie bohrten und hämmerten. Schließlich reichte die Spitze des Mastes bis zum Himmel, der Fuß des Rumpfes berührte den Meeresboden. Mit geblähten Segeln flog das Schiff in Windeseile von einem Meer zum anderen.
Wir werden den Wettstreit gewinnen.
„Wir werden den Wettstreit gewinnen“, sprachen die Menschen im Königreich in den Bergen. Unsere Kraft wird den Beweis erbringen. Durch unseren Erfindungsreichtum werden wir zeigen, dass wir die Größten sind.“ Ohne zu zögern, gingen die Bergleute ans Werk. „Wir werden die Rohstoffe veredeln. Sie werden so edel und nützlich sein, dass Wohlstand und Reichtum von nun an ewig währen.“ Sie hoben Rohstoffe, so viel der Berg hergab. Sie trugen das Erdreich ab. Sie kochten das Erz und schmolzen das Silber. Sie förderten das Öl und bändigten das Gas. Was immer der König wünschte, stellten sie aus den Schätzen der Erde her. Schließlich war ihre Kraft so groß, dass das Königreich der Berge so hell leuchtete wie die Sonne.
„Einen Wettstreit soll es geben?“, fragten die Menschen und blickten sich ratlos an. „Worum sollen wir wetten? Wofür sollen wir streiten? Was sollen wir tun?“ So eilten die Fragen von Haus zu Haus. „Wir können tanzen“, sagte der Lehrer. „Wir können singen“, sprach die Musikerin. „Wir können spielen“, riefen die Kinder. „Wir können köstlich schmausen“, meinte die Köchin. Im Nu versammelten sich die Menschen auf der großen Wiese am Rande des Feldes. Jeder brachte, was er hatte: Ein Lied oder einen Tanz, ein Brot oder einen Wein, eine Suppe oder ein Spiel. Sie aßen und waren fröhlich miteinander. Sie teilten und hatten alles gemeinsam.
Im Königreich am Meer lag das größte und schnellste Schiff im Hafen. Das Land aber war wüst und leer. Kein Baum, der Früchte trug, um die Menschen zu nähren. Kein Baum, der Schatten spendete, um die Menschen zu schützen.
Im zweite Königreich war es sonnenhell. Gleißendes Licht überstrahlte den Tag, flutendes Licht erfüllte die Nacht. Keine Dunkelheit mehr, die Ruhe gab. Die Schätze der Berge waren erbeutet. Keine Tiefe mehr, in die es sich hinabzusteigen lohnte.
Das Königreich der Felder war erfüllt von den Farben der Blumen und vom Duft des Korns. Die Menschen lachten und tanzten. Sie teilten miteinander und hatten alles gemeinsam. Der kleine König saß mitten unter ihnen und sprach: „Die Menschen haben es erwiesen. Das ist das wunderbarste Königreich. Nichts kommt diesem Wunder gleich.“
Der dicke und der lange König aber wurden niemals mehr gesehen.
Simone Merkel, 15.Januar. 2016