Du verpasst etwas

Du verpasst etwas – Markus 10, 13 – 16

„Es könnte sein, du verpasst was“, sagt die Mutter. Sie steht mit verschränkten Armen in der Tür. Hanna hat sich auf die Matte geworfen. Das Gesicht ist tief in die Kissen gedrückt.
„Steh endlich auf und zieh dich an!“ Die Mutter dreht sich um und geht nach nebenan.
Hanna hört, wie sie mit den Schalen und Krügen klappert. Sie sortiert die Gefäße. Sie will alles in Ordnung bringen, bevor sie das Haus verlässt.

„Und wenn ich nicht will?“, denkt Hanna, „dann kann sie gar nichts tun!“ Trotzig dreht sie sich um. Den Rücken lehnt sie gegen die Wand. Die Knie zieht sie an den Bauch und schlingt die Arme fest um die Beine. Mit schmollendem Mund und finsterem Blick ist sie fest entschlossen, standhaft zu bleiben. „Ich will nicht! Und du kannst nichts dagegen tun!“
Hanna spricht zu sich selbst. Aber ihre Worte sind laut und deutlich.

Es könnte sein, dass du etwas Schönes verpasst

„Es könnte sein, dass du etwas Schönes verpasst“, ruft die Mutter von nebenan.
„Was soll ich schon verpassen“, murmelt Hanna vor sich hin.
„Eva und Ida werden sicher auch da sein“, versucht es die Mutter von Neuem.
„Pff – Eva und Ida. Die können mir gestohlen bleiben.“
„Aber sonst magst du es doch auch so gerne, wenn all die Leute kommen.“
„Ja, sonst! Aber heute ist nicht sonst!“
„Was ist denn heute?“, fragt die Mutter und steht nun wieder in der Tür.
„Nichst ist heute. Lass mich in Ruhe.“
„Ich sag’s dir. Du wirst etwas verpassen. Die Leute erzählen schon seit Tagen von nichts anderem. Von überall kommen die Leute zusammen. Auf dem Marktplatz werden sich alle versammeln. Da wird geredet. Da gibt es Neues zu hören. Da gibt es Leute zu sehen. Und wer weiß, was noch alles passiert. Ich sag’s dir. Du wirst was verpassen.“
„Na und, dann verpass ich eben was!“

Hanna lässt sich nicht erweichen. Wenn Hanna nicht will, dann will sie nicht. So bleibt der Mutter nichts anderes übrig, als allein zu gehen. Und Hanna? Wird sie was verpassen…?

Es ist still im Haus

Es ist still im Haus. Es ist still im Dorf. Hanna hockt auf der Matte. Die Zeit vergeht. Eine Stunde, zwei Stunden, vielleicht noch mehr. Zeit vergeht, viel Zeit. Plötzlich hört Hanna Stimmengewirr, Frauenstimmen. Fröhlich plaudern sie. Aufgeregt reden sie durcheinander. Die Nachbarin ist dabei, Hannas Mutter auch und Ida und Eva.

Uns gehört das Gottesreich

Und dann stehen Ida und Eva vor Hanna und reden und plaudern und vergessen, Atem zu holen.
„Du glaubst nicht, was heute passiert ist.“
„Das hat es noch nie gegeben.“
„Uns gehört das Gottesreich. Also wir gehören dazu.“
„Wir sind wichtig. Er hat‘s gesagt. Und alle haben es gehört.“
„ALLE haben es gehört! Alle sind dabei gewesen.“
„Das können sie nicht zurücknehmen. Das bleibt. Für immer.“
„Der Segen gilt. Der gilt für immer.“
„Er hat uns gesegnet. Hanna, hör doch, er hat uns gesegnet.“

Längst ist Hanna neugierig geworden. Aufmerksam verfolgt sie die Worte der Freundinnen.
„Der Segen gilt. Was heißt das?“, fragt Hanna.
„Was heißt das? Was heißt das? Wir waren dabei. Wir gehören dazu. Wir sind auch wichtig.“
„Gott wird uns schützen, immer und ewig.“
„Aber woher weißt du das?“, fragt Hanna weiter.
„Wissen – es geht nicht um wissen. Das konnte man spüren.“

Da geht eine Kraft durch den ganzen Körper

„Da geht eine Kraft durch den ganzen Körper. Das vergisst du nie mehr.“
„Aber woher kommt die Kraft?“, wundert sich Hanna.
„Woher? Was weiß ich.“
„Die Kraft kommt von Gott. Das ist doch klar.“
„Wieso ist das klar?“, staunt Hanna.
„Wieso ist das klar … Du hättest mitkommen sollen, dann hättest du es selbst erlebt.“
„Mensch, Hanna, du hast das Beste verpasst.“
„Und was war das Beste?“, will Hanna wissen.

„Zwischen der ganzen Menschenmenge hat Jesus uns gesehen. Er hat uns zu sich geholt. Er hat sogar die Männer angeherrscht, die uns nicht durchlassen wollten. Und dann hat er geredet. Und er hat uns angerührt und den Segen gesprochen. Das war das Beste.“
„‘Für dich‘ hat er gesagt. Das geht durch, das vergisst du nie.“
Hanna kauert sich auf ihrer Matte zusammen. Die Arme hat sie um die Knie geschlungen. Leise flüstert sie: „Es könnte sein, dass ich tatsächlich was verpasst habe.“
Später fragt sie: „Gibt es auch einen Segen für mich?“

Simone Merkel, 12. Februar 2018