Düsternis über der Stadt

Erzählung zur Jahreslosung 2017

Ich gieße reines Wasser über euch aus, dann werdet ihr rein. Ich reinige euch von aller Unreinheit und von allen euren Götzen. Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch. Ich nehme das Herz von Stein aus eurer Brust und gebe euch ein Herz von Fleisch. Ezechiel 36, 25-26

Düsternis über der Stadt – Ezechiel 36, 22-38

Eine Geschichte wollt ihr hören? Ihr wollt sie mit eigenen Ohren hören? Ihr wollt sie mit eigenen Augen sehen? Eine Geschichte mit Bildern wie aus Träumen? Seid ihr dazu wirklich bereit? Dann spitzt eure Ohren. Schärft eure Augen. Was ich euch jetzt erzähle, habe ich noch niemals zuvor erzählt.

Von einem blühenden Land wollte ich erzählen. Ich wollte von einem Land erzählen, in dem die Quellen klares, reines Wasser hervorbringen. Die Olivenhaine stehen stark und üppig, Weinberge gibt es soweit das Auge reicht. Leuchtend und rot blüht der Hibiskus. Die Menschen tanzen und lachen. Sie danken der Lebendigen. Sie singen: „Lebendige, du Schöpferin des Lebens. Dich loben wir. Dich ehren wir. Dir danken wir.“

Von diesem blühenden Land wollte ich erzählen. Von den glücklichen Zeiten wollte ich erzählen.
Ich kann es nicht. Es ist vorbei. Dieses Land gibt es nicht mehr. Diese Zeiten sind Vergangenheit.
Unmerklich hat alles angefangen, dieses furchtbare Unglück, dieser unbeschreibliche Schrecken. Nur davon kann ich jetzt erzählen.

Eines Tages zieht ein dunkler Schatten durch die Straßen

Eines Tages zieht ein dunkler Schatten durch die Straßen. Er zieht vorbei an den Häusern. Er zieht hinauf zum Tempel. Er streift die Oliven. Er legt sich über den Wein. Er zieht zurück in die Stadt. Leikese, ein junger Mann, sieht den Schatten. Er drückt sich an eine Hauswand. Er erschrickt. Er hält den Atem an. „Was ist das? Was kommt hier auf uns zu? Was nistet sich hier ein?“ Der Schatten zieht weiter. Der Schatten verschwindet. Leikese aber ist beunruhigt, zu tiefst beunruhigt. „Habt ihr das gesehen?“, fragt er die Leute. „Was gesehen?“, wundern sie sich. „Was sollen wir gesehen haben?“ „Den dunklen Schatten, Schamam, der Dunkle, ist in unsere Stadt gekommen.“ Sie lachen und lassen Leikese stehen. „Was du dir immer fantasierst.“ „Ich fantasiere nicht“, ruft Leikese ihnen nach, „ich habe ihn gesehen.“

In der kommenden Nacht wälzt sich Leikese unruhig auf seinem Lager hin und her. Die Träume kommen und gehen. Er hört Wind und Sturm, er spürt tosende Wolken und loderndes Feuer. Er sieht Gestalten, die wie Menschen aussehen und vier Gesichter haben. Ein Gesicht gleicht einem Menschen, eins einem Löwen, eins einem Stier, eins einem Adler. Zu jedem Gesicht gehören vier Flügel und Füße wie die eines Stieres. Feuer leuchten und Blitze zucken. Dann schreckt Leikese von seinem Lager hoch.

Tags darauf geht Leikese zu einem Bürger der Stadt, Babel heißt er. Er hat ein weiches Herz und wachen Verstand. Er hilft den Menschen und er liebt das Leben. Dafür ist er bekannt. „Babel höre! Ich träume schreckliche Träume. Ich sehe furchtbare Bilder. Das Unheil wird über uns herein brechen. Schamam, die Düsternis, zieht durch unsere Stadt. Sie wird uns ergreifen.“ „Was du immer befürchtest. Die Düsternis kann uns nichts anhaben. Wenn sich jeder um seine eigenen Angelegenheiten kümmert,  seine eigene Familie versorgt und sein eigenes Geld zusammenhält, dann kann uns nichts geschehen.“ „Babel“, schreit Leikese entsetzt, „was ist mit dir geschehen? Du bist egoistisch. Du denkst nur an dich. Dein Herz ist hart wie Stein. Schamam hat dich längst ergriffen.“ Babel lacht bitter und schlägt Leikese die Tür vor der Nase zu. Leikese durchfährt ein kalter Schauer und die Düsternis durchstreift schattenhaft die Stadt.

In der folgenden Nacht

In der folgenden Nacht werfen die Träume Leikese wieder auf seinem Lager hin und her. Die Bilder kommen und gehen. Er sieht ein Tor und er tritt durch das Tor. Er sieht eine Wand und darin ein Loch. Er schaut durch das Loch in der Wand und er sieht das Grauen. Der heilige Tisch ist zerstört, die Leuchter sind zerbrochen, die heiligen Schriftrollen liegen in Fetzen. Würmer, Kröten und Echsen haben sich der Gegenstände bemächtigt. An rauchenden Feuern tanzen gespenstische Gestalten. Grausiges Lachen und düstere Feste. Dann schreckt Leikese von seinem Lager hoch.

Tags darauf geht Leikese zu einem Bürger der Stadt, Madaneb heißt er. Er ist der gottesfürchtigste Mensch. Er verehrt die Lebendige. Dafür ist er bekannt. „Madaneb höre!“, sagt Leikese, „ich träume schreckliche Träume. Ich sehe furchbare Bilder. Das Unheil wird über uns herein brechen. Schamam, die Schrecknis, zieht durch unsere Stadt. Sie wird den Tempel zerstören. Dann wird kein Platz mehr für die Lebendige sein.“ „Was du immer befürchtest.

Zum Leben gehören beide, die Freude und das Leid, die Geburt und der Tod, das Lachen und das Weinen. Wenn wir der Schrecknis die Ehre geben, dann kann sie uns nichts anhaben.“  Erschrocken hört Leikese die Worte. „Madaneb, Menschenskind, was ist mit dir geschehen? Du hast die Lebendige vergessen. Du gibst der Schrecknis die Ehre. Dein Herz ist hart wie Stein. Der Tempel ist zerstört. Schamam hat dich längst ergriffen.“ Madaneb zieht den Fetzen der heiligen Rolle unter seinem Gewand hervor und zerreißt es vor Leikeses Augen. Leikese erstarrt und die Schrecknis durchstreift schattenhaft die Stadt.

In der folgenden Nacht liegt Leikese fröstelnd auf seinem Lager. Das Fieber hat ihn gepackt und wirft ihn in kalten Schauern hin und her. Er will laufen, aber seine Beine versagen ihm den Dienst. Er will sich bewegen, aber seine Arme sind mit Stricken gebunden. Er will schreien, aber es kommt kein Ton über seine Lippen. Dann schreckt Leikese von seinem Lager hoch.

Noch im Morgengrauen

Noch im Morgengrauen läuft er zu Amada, einer Bürgerin der Stadt. Sie bebaut den Acker, sie ist eine Hüterin des Landes. Sie liebt das Leben in diesem Land. Dafür ist sie bekannt. Atemlos sagt Leikese zu ihr: „Amada, höre! Ich träume schreckliche Träume. Ich sehe furchtbare Bilder. Das Unheil wird über uns herein brechen. Schamam, die Schreckensstarre, zieht durch unsere Stadt. Sie wird uns das Land entreißen. Es wird kein Platz mehr für unser Volk auf diesem Boden sein.“ „Was du immer befürchtest. Dieses Land ist trocken und öde. Es hat ausgedient, damit müssen wir uns abfinden.

Milch und Honig fließen an anderen Flüssen. Dahin müssen wir uns auf den Weg machen.“ Bei diesen Worten verschlägt es Leikese den Atem. Mühsam bringt er die Worte hervor: „Amada, du Hüterin der Erde, was ist mit dir geschehen? Du  hast dieses Land aufgeben. Du sehnst dich nach dem neuen Land. Dein Herz ist hart wie Stein. Der Tempel ist zerstört. Das Land ist verloren. Schamam hat dich längst ergriffen.“ Amada spuckt verächtlich auf die Erde und kehrt Leikese den Rücken zu.  Leikese hat keine Worte mehr. Das Blut in seinen Adern gefriert. Die Schreckensstarre hat sich über das Land gelegt.

Von einem blühenden Land

Von einem blühenden Land wollte ich euch erzählen. Ich wollte euch von einem Land erzählen, in dem lebendiges klares Wasser fließt. Ich wollte von einem Land erzählen, in dem die Menschen ein fröhliches Herz und einen wachen Geist haben. Dieses Land gibt es nicht mehr. Es gibt Leere und Einsamkeit. Es gibt Hunger und Not. Es gibt Angst und Sorge. Die Schreckensstarre liegt über dem Land.

Und Leikese? Leikese der Träumer, der Mahner, der Seher, was ist mit ihm? Leikese hat keine Worte mehr und er hat auch keine Träume mehr. Tage vergehen, Wochen, Monate, Jahre vergehen. Leikese bleibt stumm. Er bleibt stumm bis zu jener Nacht, in der er diese Bilder sieht. Die Traumbilder kommen  und sie bleiben.

Leikese sieht sich laufen und seine Beine tragen ihn. Er geht und mit ihm gehen Männer, Frauen und Kindern. Die Trommel wird geschlagen, er hört Lachen und Gesang. Sie folgen einem kleinen Bach. Sie laufen stromaufwärts. Sie erreichen die Quelle. Klares, reines, erfrischendes Wasser. Sie trinken. Sie spüren das Leben. Alles ist lebendig, alles ist wach: Das Herz, der Geist, der Körper. Neues Leben, neue Kraft und die Lebendige ist mitten unter ihnen. Plötzlich sind da auch die Anderen, Babel, Madaneb und Amada. Die Lebendige reicht Babel das reine Wasser. Er trinkt und sie sagt: „Von nun an ist alles neu. Nicht Babel, das steinerne Herz, sollt du heißen. Lebab, das lebendige Herz sollst du sein.

Ich, die Lebendige

Ich, die Lebendige, sage es und tue es.“ Dann reicht die Lebendige auch Madaneb das reine Wasser. Auch er trinkt und sie sagt: „Von nun an ist alles neu. Nicht Madaneb, der Verkehrte, sollst du heißen. Ben-Adam, mein Menschenkind, sollst du sein. Ich, die Lebendige, sage es und tue es.“ Zum Schluss reicht die Lebendige auch Amada das reine Wasser. Auch sie trinkt und die Lebendige sagt: „Von nun ist alles neu. Nicht Amada, die Ödnis, sollst du heißen. Adama, die Fruchtbare, die Ackererde, sollst du sein. Ich, die Lebendige, sage es und tue es.“

Ist das ein Leben. Sie feiern das Leben. Sie verehren die Lebendige. Sie singen ihrer Retterin Lieder.  „Lebendige, du Schöpferin. Du bist der Anfang. Du gibst das Leben. Lebendige , du Kraftquelle. Du verleihst Mut und Stärke. Lebendige, du Verbinderin. Du schenkst Vertrauen und Liebe.“

Sie singen und lachen. Sie jubeln und tanzen. Lange, laut und fröhlich. Irgendwann wird es still. Stumm reichen sich die Menschen die Hände. Leikese öffnet den Mund. Er hat Worte und er will sprechen. Er flüstert und seine Worte sind klar: „Die Ereignisse haben uns verändert. Auch ich bin nicht mehr, der ich war. Ich bin heute ein Anderer. Aus Leikese ist Esekiel geworden. Mein Herz ist verändert. Ich sehe mit anderen Augen. Ich sehe die Lebendige mit anderen Augen.“ Esekiel senkt die Augen, dann haucht er die Worte: „Lebendige, mächtig über allen, unaussprechlich dein Name.“

Die Hoffnung und das Leben sind in ihre Herzen eingezogen. Davon will ich erzählen.

Simone Merkel, 31. August 2016