Tu doch was! – Exodus 2, 1 – 10
Miriam erzählt:
Ich erinnere mich noch wie heute daran. Den Männern machte die harte Arbeit in den Steinbrüchen des Pharaos zu schaffen. Ihre Knochen waren kaputt, die Haut war zerschunden. Mager waren sie allesamt. Der Glanz in den Augen der Frauen war erloschen. Die Hoffnungslosigkeit hatte sie müde gemacht. Keiner glaubte, dass wir je aus dem Frontdienst des Pharao entlassen werden. Und keiner glaubte, dass es noch schlimmer kommen konnte.
Aber es kam noch schlimmer. Der Pharao begriff, dass er uns allein mit harter Arbeit nicht beikommen konnte. Er beschloss, alle Jungen bei der Geburt töten zu lassen. Aber die Hebammen widersetzten sich. Da befahl der Pharao alle kleinen Jungen der Hebräer töten zu lassen. Die Familien waren in Aufregung. Meine Mutter war verzweifelt. Sie trug ein Kind im Leib. Jeder konnte es sehen. Die Geburt stand kurz bevor. „Wird es ein Junge oder ein Mädchen? Gott, lass es ein Mädchen sein. Mein Kind soll leben!“ Nacht für Nacht hörte ich sie weinen und beten, sie betete und flehte um ein Mädchen Abend für Abend, bis sie in den Schlaf fiel.
Ein wunderbarer, kräftiger und prächtiger Knabe.
Unter Schmerzen brachte sie ein Kind zur Welt. Einen Jungen. Ich habe sie niemals so verzweifelt weinen sehen. Es war ein Junge. Ein wunderbarer, kräftiger und prächtiger Knabe.
„Mama“, flüsterte ich, „er wird leben.“
Ich strich ihre Hand. Ich wollte, dass sie aufhört zu weinen.
„Mama, er wird leben. Das verspreche ich dir. Mama, du wirst es sehen. Gott steht uns bei.“
Drei Monate konnte wir ihn im Haus verbergen. Ich sorgte für ihn, ich wiegte ihn. Er wuchs heran. Er wurde kräftiger. Wir konnten ihn nicht länger heimlich im Haus verstecken.
„Sie werden kommen und ihn töten.“ Die Verzweiflung meiner Mutter wuchs mit jedem Tag. Abend für Abend flehte sie: „Gott, steh uns bei! Gott, rette diesen Knaben.“
Ich konnte die Verzweiflung nicht mehr ertragen. „Mama, tu doch was!“
Einmal schrie ich meine Mutter an: „Gott wird uns beistehen, wenn wir endlich etwas tun.“
Ich schrie die Worte und erschrak selbst darüber.
Ich eilte zum Fluss, ich schnitt das Schilf
Ich eilte zum Fluss, ich schnitt das Schilf, ich hastete zurück ins Haus. Dann ging alles ganz schnell. Wir flochten ein Körbchen. Wir dichteten es mit Harz und Pech ab. Wir füllten es mit warmen, weichen Tüchern. „Gott steht uns bei! Gott rettet unseren Jungen! Morgen, ganz gewiss!“
Wir wussten an welcher Stelle die Königstochter zu baden pflegte. Ein Kind im Körbchen, ein Prinz, der auf dem Wasser dahergefahren kommt. Das muss ihr Herz erweichen.
Wir sahen sie kommen. Vorsichtig setzten wir das Körbchen im Schilf ins Wasser.
Ich versteckte mich. Ich wartete, ich lauerte, ich hoffte, ich betete. „Gott, steh mir bei!“
Dann schrie er aus Leibeskräften. Noch nie habe ich ihn so schreien hören. Er schrie als wüsste er, dass es um sein Leben geht. Die Dienerinnen zogen das Körbchen aus dem Fluss. Dann sah ich die Königstochter. Sie war entzückt, sie war verliebt, sie war voller Mitleid. „Der Junge ist so schön. Der Junge ist so prächtig. Er muss leben. Wir nehmen ihn mit. Wir brauchen eine Pflegemutter, die ihn stillt.“
Mein Herz klopfte bis zum Hals.
Vorsichtig trat ich an die Dienerinnen heran. Ich schlich um sie herum.
„Ihr habe einen prächtigen Jungen. Ein schönes Kind. Habt ihr auch eine Mutter, die den Jungen stillen kann?“ Die Dienerinnen sahen mich an. „Nein“, sagten sie, „haben wir nicht. Weißt du eine Frau, die sich um den Jungen sorgen kann?“ „Ich weiß eine. Soll ich sie holen?“
Ich wartete die Antwort nicht ab. Ich lief zum Haus, ich zerrte meine Mutter am Arm. Ich zog sie zum Flussufer, atemlos. „Sie kann sich um den Jungen sorgen.“
„Tu das“, sagte die Königstochter, „sorg für ihn und zieh ihn auf. Ich will dich dafür entlohnen. Wenn er groß genug ist, dann bring ihn in den Palast. Mose will ich ihn nennen, weil ich ihn aus dem Wasser gezogen habe.“
Die Dienerin legte den Knaben meiner Mutter in den Arm. Mir hüpfte das Herz im Leib.
Simone Merkel, 12. Februar 2018